Pierre Lacotte
Die Überzeugung, dass gegenwärtige Entwicklungen in der Tanzkunst nur im Lichte der Vergangenheit verstanden werden können, führte Pierre Lacotte auf die Spuren der großen Meister des Balletts des 19. Jahrhunderts. Sein Verständnis für den Stil ihrer Werke wurde ihm durch Ausbildung bei Lehrer*innen vermittelt, die als ehemalige Tänzer*innen der Pariser Oper und des Kaiserlichen Balletts in St. Petersburg Teil einer großen Tradition waren. 1932 in Chatou (Frankreich) geboren, war Lacotte nach seinem Studium an der Ballettschule der Pariser Oper von 1946 bis 1954 Mitglied dieses Hauses, von 1953 an als Premier danseur. Als Leiter der 1955 gegründeten Ballets de la Tour Eiffel, als Direktor der Ballets des Jeunesses Musicales de France (1963–1970) und als Gastchoreograph des englischen Ballet Rambert konnte Lacotte seine Ambitionen als Schöpfer moderner Ballette verwirklichen. Eine bedeutende Rolle spielte Pierre Lacotte zudem, als er 1961 dem Ausnahmetänzer Rudolf Nurejew bei einem Gastspiel des Leningrader Kirow-Balletts am Pariser Flughafen zu seinem legendären Absprung in den Westen verhalf. Seit Anfang der siebziger Jahre widmete sich Lacotte vorwiegend der liebevollen und detailgetreuen Rekonstruktion von Balletten des 19. Jahrhunderts. Mitbestimmend für den Erfolg war die Ballerina Ghislaine Thesmar, die ebenso wie der Choreograph enormes Stilgefühl und Verständnis für die Präsentation von Balletten in ihrer ursprünglichen Form besitzt. Beginnend mit »La Sylphide« (1971) hat Lacotte bis heute rund ein Dutzend in Vergessenheit geratener Ballette von Choreograph*innen wie Filippo Taglioni, Joseph Mazilier, Marie Taglioni, Jules Perrot und Marius Petipa ins internationale Repertoire zurückgebracht. Dazu kamen seine Fassungen von tradierten Balletten des 19. Jahrhunderts wie »Coppélia« (1973, Pariser Oper), »Schwanensee« (1976, Grand Théâtre de Bordeaux), »Giselle« (1978, Ballet du Rhin) und »Der Nussknacker« (2000, Nationaloper Athen). Überdies wirkte Pierre Lacotte als künstlerischer Leiter der Ballets de Monte-Carlo (1985–1988, gemeinsam mit Ghislaine Thesmar), des Balletts am Opernhaus in Verona (1988) und des Ballet National de Nancy et de Lorraine (1991–1999).
Vom Wiener Staatsballett wurden bisher Lacottes Handlungsballette »La Sylphide« (2011) und »Coppélia« (2019) getanzt sowie die 1976 für die Pariser Opéra-Comique entstandene Rekonstruktion des Pas de six aus Arthur Saint-Léons »La Vivandière«, ein Pas de deux aus seiner Rekreation von Joseph Maziliers »Paquita« und ein Pas de deux aus seiner »Die Tochter des Pharao«. Er war Commandeur des Arts et Lettres und hat – gemeinsam mit Jean-Pierre Pastori – das Buch »Pierre Lacotte. Tradition« (Éditions Favre, 1987) verfasst. Am 10. April 2023 ist Pierre Lacotte im Alter von 91 Jahren verstorben.