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Röntgenscan einer Haydn-Partitur

Am 13. September 2022 steht das erste Konzert der neuen Konzertreihe der Volksoper Wien auf dem Programm. Insgesamt fünf Programme zeigen in der ersten Saison die Bandbreite des Orchesters. Vier Programme werden in der Volksoper erklingen, dieses erste jedoch im Wiener Konzerthaus.

Tschaikowskys Violinkonzert stellt unser neuer Musikdirektor Omer Meir Wellber Schostakowitschs klassische neunte Symphonie sowie ein ganz besonderes Werk gegenüber: das im Jahr 2020 entstandene Werk Marionettes der usbekischen Komponistin Aziza Sadikova.

Volksopern-Dramaturg Peter te Nuyl hat mit der Komponistin über ihr Werk gesprochen.

Peter te Nuyl
In der Einleitung Ihrer Partitur schreiben Sie, das Werk sei eine Reflexion über Joseph Haydns Marionettenoper Philemon und Baucis. Gibt es eine Verbindung zur Thematik oder Handlung der Oper?

Aziza Sadikova 
Nein, gar nicht. Natürlich bezieht sich der Titel auf das Genre des Marionettentheaters, für das Haydn seine Oper verfasste, aber zur eigentlichen Opernhandlung besteht keine Verbindung. Das Stück wurde dafür in Auftrag gegeben attacca – also sofort im Anschluss an Haydns Ouvertüre gespielt zu werden. Die Verbindung zu Haydn ist rein formaler Natur. Die Struktur (klassische A-B-A Concertino), die Instrumentierung und das gesamte musikalische Material sind Teil der Neuinterpretation der klassischen Haydn-Partitur. Der ursprüngliche Impuls und die Art des Musikmaterials sind von Joseph Haydn entlehnt. Gleichzeitig habe ich versucht, die Hörer:innen noch weiter zurück in die Geschichte zu führen, und musikalische Überlegungen zu meinem Lieblingskomponisten François Couperin einzubeziehen. 

PtN
Würden Sie das Stück als neo-klassisch beschreiben?

AS
Ich bin mit den Werken zweier Komponisten aufgewachsen, die, beide zu ihrer Zeit, ihre moderne Sicht auf die barocke und klassische Musik zum Ausdruck brachten: Strawinsky in den zwanziger Jahren und Schnittke in den siebziger Jahren. Und ja, ich spüre eine Verbindung mit den beiden, aber auch einen Unterschied: Sowohl Strawinsky als auch Schnittke waren russische Komponisten, sie wurden in Russland ausgebildet. Ich erhielt meine Ausbildung Großteils in Westeuropa, zu einer Zeit großer Umwälzungen in der historischen Ausführungspraxis. Ich denke, dass sich in unserer Gegenwart (dieses Stück entstand 2020) unser Blick auf historische Musik gewandelt hat. Ich habe versucht, die Musik der Vergangenheit aus meiner zeitlichen Perspektive wiederzuentdecken und wieder mit ihr in Verbindung zu treten.

Es gibt beispielweise Stellen in dieser Partitur, in denen ich von der klassischen Art zu komponieren abweiche (barocke Cembaloverzierungen, Violinkadenz) und anfange, vieltönige Akkorde übereinanderzuschichten, sodass es orchestrale Cluster entstehen, die teilweise die Melodielinien übertönen.

PtN
Das klingt wie ein Röntgen-Scan einer Haydn-Partitur oder wie eine Betrachtung klassischer Musik durchs Mikroskop.

AS
Ich denke, die Gegenüberstellung von historischer und neuer Musik kann unsere modernen Hörweisen und heutige Wahrnehmung sowohl von klassischer als auch von zeitgenössischer Musik immer noch bereichern und erfrischen.

PtN
Ihre künstlerische Beziehung zu historischer Musik, die sich auch in anderen Ihrer Werke zeigt, ist das eine Faszination für diese Musik als solche, oder ist es auch ein Statement gegen die modernistische Welle in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts?

AS
Meine Musik ist kein Statement gegen etwas, sie ist ein Statement für etwas. Und in diesem Fall bringe ich meine tiefgehende Faszination nicht nur für die Musik, sondern auch für die Mode, die Kunst und die Philosophie des 18. Jahrhunderts und davor zum Ausdruck.
Aber Sie haben einen wichtigen Punkt angesprochen: Die zeitgenössische Musik aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat den Klang auf brillante Weise erforscht, ist dann aber irgendwie in Dogmen stecken geblieben. Ich möchte nicht nur für ein spezielles Zielpublikum komponieren, ich möchte mit allen Ohren kommunizieren. 
In meiner Musik geht es mir nicht um Konzepte oder Soundexperimente, sondern um die inneren Bewegungen im Menschen, um das, was wir Gefühle nennen.
Und ja, in diesem Sinne, könnte man tatsächlich so etwas wie eine Abstammung von Tschaikowsky über Schostakowitsch zu meiner Musik wahrnehmen.
Und wenn wir von Abstammung sprechen: es gibt es noch eine andere Abstammung, die für mich noch wichtiger ist. Mein Vater, Otlun Sadikov, 1947 geboren, ist Komponist und Dirigent. Und auch mein Großvater war Komponist. Tolibjon Sadikov – 1907 geboren, 1957 gestorben – war einer der Gründer der professionellen Musik in Usbekistan. Er studierte bei Viktor Uspensky und Reinhold Glière. Der Flügel von Glière befindet sich noch immer im Besitz meiner Familie. 1939 schrieb er die erste usbekische Oper, Leili und Mejnun. (2021 führte die Volksoper eine andere Version derselben Geschichte auf: die Oper Leyla und Medjnun, die 1987 von Detlev Glanert vertont wurde, d. Red.). 


Auch wenn Aziza Sadikova selbst eine Verbindung zwischen diesem Stück und der Geschichte von Haydns Marionettenoper Philemon und Baucis verneint, könnten wir doch eine Verbindung zur ursprünglichen Quelle des Materials erkennen. Die Geschichte von Philemon und Baucis wurde erstmals von Ovid in seinen Metamorphosen (Buch 8, Vers 611-720) erzählt.

Jupiter und Mercurius, als Menschen verkleidet, wurden von allen Dorfbewohnern weggeschickt. Das arme und alte Ehepaar Baucis und Philemon lud sie großherzig zu Speis und Trank ein und teilte ihr dürftiges Mahl mit ihnen. Jupiter lässt das Dorf in den Fluten untergehen, verwandelt das Haus des Paares in einen Tempel und fragt sie nach ihren Wünschen. Sie wünschen sich, den Göttern im Tempel zu dienen und gemeinsam zu sterben. 

Ovid schreibt: 
Dem Wunsch folgt die Erfüllung: Sie waren die Hüter des Tempels, solange ihnen das Leben gewährt war; als sie, von Jahren und Alter geschwächt, einmal zufällig vor den heiligen Stufen standen und das Schicksal des Ortes erzählten, sah Baucis, dass Philemon von Laub bedeckt war, und der alte Philemon, dass Baucis mit Laub bedeckt war. Und als schon über beider Antlitz ein Wipfel wuchs, tauschten sie, solange es möglich war, Worte und sagten zugleich: „Leb wohl, Gemahl!“, zugleich bedeckte und verbarg das Geäst ihre Münder.

Gastfreundschaft gegenüber dem Fremden und eine lebendige Metamorphose, so ließe sich Sadikovas Musik beschrieben.

Wir hören, wie sich Couperin in Haydn entfaltet, und wie Haydn sich im zeitgenössischen Klang von Sadikova weiterentwickelt. Oder ist es Sadikova, die eine langsame Metamorphose in Richtung klassische Ära vollzieht?


Konzert: Orchester der Volksoper Wien / Midori / Wellber

Konzert im Wiener Konzerthaus

Peter Iljitsch Tschaikowski (1840–1893): Konzert für Violine und Orchester D-Dur, op. 35
Aziza Sadikova (*1978): Marionettes für Cembalo und Orchester
Dimitri Schostakowitsch (1906–1975): Symphonie Nr. 9 Es-Dur, op. 70

Karten für dieses Konzert erhalten Sie direkt im Wiener Konzerthaus
oder im Rahmen unseres Konzertzyklus‘.

Weitere Infos zu diesem Konzert.