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Sich mit und für Menschen von heute mit dem Material der Vergangenheit zu befassen, empfinde ich als ein tägliches Fest

Ein Gespräch mit Lotte de Beer

Das Gespräch führte Dramaturg Peter te Nuyl

PtN: Dieses Theatergebäude am Gürtel wird heuer 125 Jahre alt, die Volksoper gibt es etwas kürzer, und doch feiern wir heuer ein Jubiläum. In diesem Sinne möchte ich dir folgende Frage stellen: In den letzten Jahren scheint sich der Gegensatz zwischen jenen Menschen, die alles, was mit dem Prädikat Tradition versehen ist, loswerden wollen, und jenen, die erst recht an alten Werten festhalten wollen, in der westlichen Welt weiter vergrößert zu haben. Wo stehen wir, als eine Institution für Kulturerbe, in diesem Konflikt?

LdB: Theater findet immer im Jetzt statt. Aber die meisten Noten und Texte, die wir spielen, stammen von früher. Dieses Spannungsfeld zwischen damals und heute ist genau die Bühne, auf der wir spielen. Wir beschäftigen uns mit Themen und Geschichten aus den Jahrhunderten vor uns, aber wir stehen auch in der Tradition, sie an unsere Zeit anzupassen. Dieses Anpassen, dieses Interpretieren findet ebenfalls seit Jahrhunderten statt. Im 19. Jahrhundert fielen Adaptionen bestehender Stücke häufig viel drastischer aus, als im oft kritisierten Regietheater unserer Zeit.

Das Wesen jeder lebendigen Tradition liegt darin, dass ihre Geschichte in der Gegenwart noch immer Relevanz besitzt. Was ist unser Erbe, welche Geschichten liegen in uns vergraben, welche Bedeutungsebenen? Was färbt unsere Wahrnehmung des Lebens von Generation zu Generation? Was hat sich als Fehler herausgestellt, und was haben wir daraus gelernt? Was tragen wir noch immer in uns, und wie gehen wir im Augenblick damit um? Wir als Theatermacher:innen, sollten das dem Publikum nicht in Form einer anstrengenden Psychotherapie auferlegen, wir brauchen es nicht durch wissenschaftliche Argumente schlüssig machen. Stattdessen können wir das assoziativ, spielerisch, fantasievoll, humorvoll, poetisch auf einer intuitiven Ebene mit unserem Publikum teilen. Lachen ist erlaubt!

Hinzu kommt, dass wir uns nicht nur zu dem Originalmaterial und zur Entstehungszeit verhalten müssen, sondern insbesondere auch zur Aufführungspraxi

Ja, auch sie ist inzwischen schon weitervererbt worden. Die Menschen kennen Die Fledermaus und Die Zauberflöte noch aus der Zeit, als ihre Großeltern und Eltern mit ihnen in die Volksoper gegangen sind. Was wir für die alte, vertraute Fledermaus halten, ist nicht die ursprüngliche Fledermaus aus Strauß‘ Zeit, sondern die Fledermaus-Interpretation von vor 40 Jahren, die davor und danach zahlreiche Male überarbeitet worden ist. Wie Simone Signoret sagte: „Nostalgie ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.“

Einer der schönen Aspekte als Intendantin, verglichen mit meiner Zeit als freiberuflicher Regisseurin, ist, dass ich mich hier in einem permanenten Austausch mit unserem Publikum befinde. Wenn man eine neue Inszenierung macht, fragt man sich nicht nur, was zum Beispiel Mozart und Da Ponte im Sinn hatten, sondern natürlich auch: Was erwartet das Publikum, was kennt es bereits, was ist ihm nicht mehr bekannt, wie kann ich eine Komfortzone schaffen und es dabei trotzdem überraschen? Und dieses „Gespräch“ mit dem Publikum in Wien mag ich sehr. Eben weil es hier eine echte Theatertradition gibt, indem die Menschen von klein auf ins Theater mitgenommen wurden, und eine Identität aufgebaut wurde.

Ist die Kehrseite davon nicht etwas, das man als konservativ bezeichnen könnte?

Ich würde es lieber positiv beschreiben: ein Publikum, das sehr treu ist, das weiß, was es erwartet, was es mag, das sich sehr mit dem, was schon da war, identifiziert und daran festhält. Ich denke, die Wiener:innen sind stolz auf die jahrhundertelange kulturelle Tradition, die sie haben. In Wien haben sich kritischer Geist und niveauvolle Unterhaltung schon immer miteinander vermischt. Kritik und Kunstgenuss gehen hier Hand in Hand. Und ich denke, dass das die große Stärke der österreichischen Kunsttradition ist. Hierin fühle ich mich zu Hause, doch lerne ich noch jeden Tag ein Stück mehr darüber, welcher Teil der Tradition so wichtig ist, dass er unverändert bleiben sollte, und für welche neuen Ideen sich die Herzen dennoch öffnen. Mir hat beispielsweise unser Hänsel und Gretel ausgesprochen gut gefallen. Im Vorfeld dachte ich mir, wir sollten eine moderne, gesellschaftlich relevante Inszenierung auf die Bühne bringen. Diese Produktion wurde vor 40 Jahren mit sehr viel Liebe gemacht und auch über die Jahre mit sehr viel Liebe gepflegt und weitergeführt, von den Regieassistent:innen dieses Hauses. Und diese Tradition wird jedes Mal von jungen, talentierten Sänger:innen neu zum Leben erweckt. Und nicht nur die Mitwirkenden verjüngen sich ständig, auch im Publikum sitzen jährlich jene, die etwas völlig Ungewohntes erleben und sich verzaubern lassen.

Wie sehr uns die Geschichte immer noch anspricht, konnte ich bei einer Schulaufführung mit 1.300 Kindern im Zuschauerraum beobachten. Wie sich diese Generation von Smartphone-Kids immer noch beim Anblick einer Hexe auf der Bühne gruselt. Diese Hänsel und Gretel-Produktion müssen wir weiterhin so pflegen, dass sie die nächsten 40 Jahre überdauern kann. Wenn die Sehnsucht nach Tradition von Stolz herrührt, kann ich das verstehen. Aber die Angst vor dem Neuen ist kein guter Grund, an der Tradition festzuhalten.

Apropos Tradition: Das Rückgrat der Volksoper ist das Ensemble. Es gibt viele neue Gesichter und Stimmen.

Es ist beeindruckend mitzuerleben, wie sich Bühnenroutiniers, debütierende Sänger:innen und junge Talente gegenseitig inspirieren. Ich liebe es, mit sehr guten Sänger:innen, intelligenten Schauspieler:innen, Teamplayern und Menschen, die etwas zu sagen haben, zu arbeiten. Und wenn man die alle zusammenbringt, spielt es keine Rolle, woher sie kommen oder wo sie gearbeitet haben. Diese Menschen teilen etwas miteinander, neben einer brennenden Liebe für den Beruf, und sie bringen sich gegenseitig zum Leuchten. Und das zu sehen ist großartig und damit arbeiten zu dürfen ist fantastisch.

Das komplette Gespräch lesen Sie in unserer gedruckten Saisonvorschau.

Alles zur Spielzeit 2023/24 lesen Sie hier.