„… wie ohne Frau ein Mann zu seinem Nachwuchs kommt!“
Notizen zu einem charakterstarken und einzigartigen Stück Musiktheater: Die Brüste des Tiresias
Oper von Francis Poulenc
Aufführungen am 28. und 29. April in der Ottakringer Brauerei
Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg – zumindest trifft dies auf die Vorgänge in Francis Poulencs Oper Die Brüste des Tiresias (französischer Originaltitel Les mamelles de Tirésias) aus dem Jahr 1947 zu. Hier beschließt die Protagonistin Theresia, sich der titelgebenden Attribute ihres Geschlechts zu entledigen und fortan ein Mann zu sein. Aus Theresia wird – kraft ihres Willens – Tiresias, und der raucht, liest Zeitung und macht Geschäfte und Politik. Der Gatte der verwandelten Theresia ist zwar namen-, aber nicht willenlos, denn er wiederum beschließt, die vermeintlich absolute Bastion der Frauen – die Gebärfähigkeit – an sich zu reißen und die „Kinderkriegerei“ von nun an selbst zu übernehmen. Mittels einer Gebärmaschine setzt er 11.000 Kinder an nur einem Tag in die Welt und proklamiert: „der feste Wille macht es möglich ganz allein“. Ohne genauere Vergleiche zu ziehen, ist es doch erstaunlich, wie zeitgemäß die Themen aus Guillaume Apollinaires surrealistischem Drama Die Brüste des Tiresias aus dem Jahr 1917, auf welchem die Oper basiert, mehr als ein Jahrhundert nach seiner Uraufführung anmuten. Performative Sprechakte treffen da auf Identitätsfragen, die sozialwissenschaftliche Theorie von „Doing Gender“ wird auf der Opernbühne lust- und humorvoll in die Praxis umgesetzt und Demographie und Familienpolitik werden à la Lysistrata satirisch und augenzwinkernd befragt.
Der Komponist Francis Poulenc
Die Welt des französischen Komponisten Francis Poulenc (1899–1963) teilte sich in zwei Extreme: Heiterkeit und Melancholie, und eben dies spiegelt sich auch in seiner Musik wider. Ein vor Esprit, Verve und Rhythmik strotzendes Werk wie Les mamelles de Tirésias, welches Poulenc als „opéra bouffe“ (komische Oper) bezeichnete, lässt nicht vermuten, dass ein großer Teil seiner Werke in der geistlichen und spirituellen Musik beheimatet ist – so auch sein bekanntestes Bühnenwerk, die Oper Dialogues des Carmélites (Gespräche der Karmelitinnen). Poulenc hatte – wie aus der Wahl seiner Opernstoffe hervorgeht – ein ausgesprochenes Interesse an Literatur, und so ist es auch nicht verwunderlich, dass er sich nach dem Ersten Weltkrieg der Künstlergruppe „Groupe des Six“ rund um Schriftsteller Jean Cocteau angeschlossen hatte. Ihr musikalischer Mentor und Wahlverwandter war Erik Satie, der – gleich Poulenc – bereits eine Affinität zum Dadaismus hegte. Innerhalb seines Schaffens überschritt Francis Poulenc nie die Grenzen der Dur-Moll-Tonalität, was er in einem Brief aus dem Jahr 1942 selbstbewusst bekräftigte: „Ich weiß sehr wohl, dass ich nicht zu den Komponisten gehöre, die harmonische Neuerungen wie Strawinsky, Ravel oder Debussy gemacht haben, aber ich denke, es gibt Raum für neue Musik, die sich nicht scheut, die Akkorde anderer zu verwenden. War das nicht auch bei Mozart und Schubert der Fall?“
Surrealismus, absurdes Theater und Liedgesang
Die Produktion des mit der Saison 2022/23 neu gegründete Opernstudios der Volksoper Wien präsentiert Poulencs Die Brüste des Tiresias in dem Arrangement für zwei Klaviere von Benjamin Britten. Die beiden zentralen Komponistenpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts waren befreundet und vertraut, geradezu „Brüder im Geiste“ – dies ist eindeutig zu hören. Regisseur Maurice Lenhard stellt dem charakterstarken und einzigartigen Stück Musiktheater in seiner Inszenierung den Liedzyklus „Frauenliebe und -leben“ von Robert Schumann (1810–1856) voran und bringt daher den emanzipatorischen Gestus von Theresia in einen Dialog mit Frauenbildern des Biedermeier. Surrealismus und absurdes Theater treffen hier auf die klassische Kunst des Liedgesangs, und somit präsentiert sich das Opernstudio der Volksoper in seiner ersten vollständigen Opernproduktion besonders vielseitig.
Der österreichische Komponist H. K. Gruber bemerkte in einer Fernseh-Dokumentation über Francis Poulenc aus dem Jahr 1988 humorvoll und enthusiastisch: „Poulenc bedeutet für mich: eine Reise, ein Abenteuer – und dafür braucht man Optimismus und … Appetit!“ In diesem Sinne: Bon Appétit!
Text von Magdalena Hoisbauer
Opernstudio der Volksoper Wien unterstützt durch Christian Zeller